thomas redl
OHNE WORTE – Anmerkungen zu neuen Arbeiten von Thomas Redl
Margit Zuckriegl


Zitat:
Thomas Redl ist ein Künstler, der als Grenzgänger zwischen bildender Kunst und Architektur eine eigene Sichtweise auf die entscheidenden Dinge einer unruhigen Zeit entwickelt hat; Fragen der Grenzen und Begrenztheit charakterisieren sein Werk, Gegenüberstellungen von positiv und negativ, von Leben und Tod, von Ritus und Banalität, von Erkennen und Verschlossen-Bleiben. Er scheut nicht vor der Kritik an einer trivialisierten Mediengesellschaft zurück, wie er auch daran interessiert ist, Verschüttetes und Verborgenes freizulegen.


Van Gogh gilt als der erste Maler der Moderne, denn – so der Schriftsteller und Theaterrevolutionär Antonin Artaud: „Van Gogh hat es abgelehnt, beim Malen Geschichten zu erzählen.“ (1)
Artaud, Außenseiter der Gesellschaft, Grenzgänger zwischen Kunst und Wahn, hatte 1947, kurz vor seinem Tod, begonnen, seine Notate über van Gogh zu skizzieren; diese Texte wurden 2002 zusammen mit jenen über Nerval, Lautréamont und andere Künstler sowie mit Filmdokumenten und Werken aus Artauds zeichnerischem Œuvre im Wiener Museum Moderner Kunst in einer umfassenden Retrospektive gezeigt und dazu in einem zeitungsähnlichen Magazin publiziert.

Thomas Redl – Zeichner, Maler, Konzeptkünstler – verwendet diese Artaud’schen Textdokumente in ihrer publizistischen Trivialform der Zeitung als Primärmaterial für seine Überarbeitungsserie Artaud. In einer stillschweigenden, wortlosen Übereinkunft mit der Sichtweise Artauds verändert der junge österreichische Künstler das angeeignete Werk in sein eigenes: Textpartien werden geschwärzt und in homogene Flächen verwandelt, sinngestörte Wortspalten ragen als Relikte aus dem Zusammenhang – es entsteht ein völlig neuer Dialog zwischen amorpher Schwärze und rhythmisiertem lettristischem Duktus. Dieses System basiert auf der Flexibilität, auf der Offenheit, die Bildern attestiert wird, die unter dem Etikett Ohne Titel viele Assoziationen und Deutungen zulassen und die sich doch genau durch diese Hermetik und ihre Verweigerung, eine literarische Stütze anzubieten, genau und ausschließlich auf ihre malerischen Qualitäten zurückziehen. Ohne Worte sind die Texte von Artaud bei Thomas Redl zu lesen, nicht Wort für Wort als lesbares Ganzes, sondern in ihrer Brüchigkeit, ihrer Obsession, ihrer Abgründigkeit als etwas Fühlbares, nur atmosphärisch Vorhandenes.
Thomas Redl hat sich auch in der Serie El País (seiner ersten malerischen Arbeit auf Zeitungspapier) auf dieses System von nichtlesbarem Text und nicht erkennbarer bildlicher Darstellung eingelassen. Seine Aneignung des kommentarreichen spanischen Intellektuellenblattes mutiert zu einer erweiterten bildnerischen Komposition. Die Texte, das eindeutig Bedeutsamste an dieser umfangreichen Tageszeitung, werden in die Bedeutungslosigkeit verbannt, sie fungieren wie Spolien in späteren Neubauten: als Reste einer anderen Kultur, einer anderen Sprache, eines anderen Zusammenhangs. Redl entwickelt in dieser Serie ein gleichsam architektonisches Gefüge von fest gegeneinander gesetzten monochromen Bildteilen. Das ursprünglich flächige Kontinuum weicht einer räumlichen Komposition: Schwarze Materiefragmente überlagern helle Kompartimente, die in spationierten Teilungen zurückweichen.

Der Bildhauer und Zeichner Eduardo Chillida (2), ursprünglich als Architekt ausgebildet, bekannte zu seinem Werk, dass es eine ewige und permanente Auseinandersetzung mit dem Raum sei. Jede Zeichnung beziehe sich auf diese Fragestellung, jede Skulptur sei eine Stufe auf der Suche nach den eigentlichen Eigenschaften von Raum und Fläche, von Innen und Außen – mit der Konsequenz, dass er am Ende seines Lebens für sein eigenes Werk den idealen Raum schaffen wollte: ein siebenstöckiges Gebäude ohne Binnengliederung – den absoluten, den totalen Raum.

Die Projektion des Raumes in die Zweidimensionalität und die Frage von Raumgrenzen sind ebenfalls wesentliche Charakteristika im Werk von Thomas Redl.
Seine – wiederum auf Zeitungspapier formulierte neue Serie Ohne Titel thematisiert ganz explizit die Beschaffenheit von Grenzen und deren Eigenschaften. Die Zeitungsfotos zeigen Gitter und Zäune, Menschen auf dieser oder auf jener Seite von Demarkationslinien – seien sie nun reale Sperren oder virtuelle Barrieren. Das Zeigen und Verdecken in den inhaltlichen Zusammenhängen der Bild-Text-Seiten erlösen diese schnell wahrnehmbaren Bilder aus dem inhaltsorientierten Kontext gleichsam zu abstrakten Symbolen. Nicht erzählen, heißt es wiederum in diesem Zyklus – also eher: ohne Worte einen emblematischen Formentwurf herausschälen; die Fragen nach den verbotenen, ausgegrenzten Räumen und den zugelassenen Quartieren stellen sich selbsttätig ein.
Sozialer Wohnbau ist der Titel einer weiteren Werkserie von Thomas Redl, die dieses Zuteilen von Raum, Lebensraum, Territorium aufgreift. In dieser Serie zeigen sich diese Umsetzungen besonders deutlich: Grundrissflächen treffen auf lineare Elemente, Häusersilhouetten auf Horizontlinien, Teilungen von Kompartimenten werden zu individuellen Terrains, übrig gelassene Zwischenräume zu Reservoirs für freie gedankliche Spielräume.
Redl ist als Mitherausgeber der fanzineähnlichen Zeitung ST/A/R (3) – mit Schwerpunkten in Städtebau, Architektur und Religion – ein bildender Künstler, der sich über die Fragen der Malerei und Grafik hinaus mit soziologischen und urbanistischen Fragen beschäftigt. Die Faszination für das Format der Zeitung, die Balance zwischen Text und Bild sowie der Rhythmus zwischen fixen Wortblöcken und assoziativen Bildstrecken machen das Ungewöhnliches dieses Mediums aus, das in seiner Offenheit und Interaktion symptomatisch für einen prozessualen Werkbegriff bei Thomas Redl ist.

Neben den grafischen Arbeiten entsteht ein weiterer Komplex von Werken, die sich gänzlich aus der Zweidimensionalität des Zeichnerischen emanzipiert haben. Seit den ersten installativen Werken, die ebenfalls in Dialog zu einer bestimmten räumlichen Situation treten und ein raum-zeitliches Kontinuum darstellen, haben sich seine Intentionen immer mehr konkretisiert. Ohne Narration, ohne erzählerische Kontextualisierung, erarbeitet Redl immer konsequenter seine Bildkörper, seine malerischen Bildtafeln, die sich wie skulpturale Objekte aus vielen Schichten und Überlagerungen zusammensetzen. Das System der Teilungen in Kompartimente weicht einer größeren, räumlicheren Form: Die großformatigen Bild-Objekte werden innerhalb des Ausstellungs- oder Installationsraums aufeinander bezogen und definieren damit den Innenraum durch ihre spirituelle Präsenz neu.
Das Kolorit in Redls Werk ist zunächst die Artikulation von Un-Farbigkeit, die – ähnlich wie im Werk von Chillida – mit wenigen Kontrasten auskommt. Die Konstante ist ein dichtes, amorphes Schwarz, das auch als die Absorption aller Farben aufgefasst werden kann. Gleichsam aus dem amalgamierten tiefsten Schwarz (4), das als Nicht-Farbe immer als Gegenüber von allen Farben eingesetzt wird, spalten sich Farbreste ab, tauchen Farbahnungen hervor, pulsieren überlagerte Farbschichten in Richtung Oberfläche. Die durch hohe geistige Symbolik gekennzeichneten Farben Violett und Gelb setzen sich gegen das Schwarz durch, das Metallische und Göttliche der Farbe Gold formuliert den absoluten Kontrast in diesem System.

Thomas Redl ist ein Künstler, der als Grenzgänger zwischen bildender Kunst und Architektur eine eigene Sichtweise auf die entscheidenden Dinge einer unruhigen Zeit entwickelt hat; Fragen der Grenzen und Begrenztheit charakterisieren sein Werk, Gegenüberstellungen von positiv und negativ, von Leben und Tod, von Ritus und Banalität, von Erkennen und Verschlossen-Bleiben. Er scheut nicht vor der Kritik an einer trivialisierten Mediengesellschaft zurück, wie er auch daran interessiert ist, Verschüttetes und Verborgenes freizulegen. Sein Umgang mit dem Spirituellen wie auch mit dem Abgründigen führte ihn zu seinem Verständnis für Antonin Artaud und über diesen zu den Fragen nach unserer Rolle in der Gesellschaft, in der Architektur, in der Kunst, wie es Artaud im Gedenken an van Gogh formuliert:
„Denn nicht für diese Welt,
denn niemals für diese Erde haben wir alle
immer gearbeitet,
gekämpft,
gebrüllt vor Entsetzen, Hunger, Not, Hass, Verleumdung
und Ekel,
dass wir alle vergiftet waren,
wenn wir auch alle durch sie verzaubert waren […]“ (5)

(1) Antonin Artaud: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft. München 1993.
(2) Zu Chillida vgl. Eduardo Chillida, Ausstellungskatalog, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid 1998.
(3) Herausgegeben von Heidulf Gerngross und Thomas Redl, erscheint seit Frühjahr 2003 viermal im Jahr in Wien.
(4) Zur Farbe Schwarz vgl. Max Raphael: Die Farbe Schwarz. Frankfurt am Main/Paris 1983.
(5) „[…] und wir schließlich Selbstmord begangen haben, denn sind wir nicht alle, wie der arme van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft“, Antonin Artaud, siehe Anm. 1, S. 42.


publiziert in: THOMAS REDL 1992–2004, Installationen / Malerei; Ritter Verlag, Klagenfurt